Es wird wirklich an jede Tür klopfen“. So bringt die Namibierin Ingrid Louis die Dynamik der Aids-Epidemie auf den Punkt. Louis arbeitet als Beraterin für ein Aids-Programm der Katholischen Kirche in Namibia, einem der fünf weltweit am stärksten von Aids betroffenen Länder. Mehr als 23 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der 15- bis 49-Jährigen sind mit dem HI-Virus infiziert, das ohne medizinische Intervention zum Ausbruch der Immunschwächekrankheit Aids führt.
Im globalen Vergleich hat die Aids-Epidemie vor allem ein afrikanisches Antlitz. 95 Prozent aller Infizierten finden sich in Entwicklungsländern. Allein im subsaharischen Afrika leben fast 30 Millionen von weltweit mehr als 40 Millionen Betroffenen. Jeden Tag sterben auf dem afrikanischen Kontinent 6.600 Menschen an den Folgen von Aids. Der Hotspot der Epidemie liegt im südlichen Afrika, in den Ländern Swasiland, Botswana, Lesotho, Simbabwe, Südafrika und Namibia. In allen diesen Ländern im Süden des Kontinents liegen die Prävalenzraten, also der prozentuale Anteil der HIV-Infizierten an der erwachsenen Bevölkerung, jenseits der 20 Prozent. Zahlen, die einem schier die Sprache rauben können.
Am Zustandekommen dieser Zahlen wurde bereits viel Kritik geübt. Alle beruhen auf Schätzungen. Am verlässlichsten sind jene Hochrechnungen, die auf der Datengrundlage von Serotests erstellt werden, also von Blutproben, mit denen ein HIV-Antikörpertest durchgeführt wird. Die Prävalenzraten im anglophonen südlichen Afrika werden auf diese Weise erhoben. In Namibia beispielsweise werden regelmäßig in 21 Krankenhäusern in einem definierten Zeitraum alle schwangeren Frauen, die zu ihrer ersten vorgeburtlichen Untersuchung ins Krankenhaus kommen, anonym getestet. Aus dieser Stichprobe wird auf die Gesamtbevölkerung geschlossen, wobei eine gewisse Abweichung von der geschätzten Zahl denkbar ist. Von anderen afrikanischen Staaten ist bekannt, dass sie aus Kostengründen, in Ermangelung von Tests oder der entsprechenden Infrastruktur, klinische Aids-Diagnosen durchführen. Bloße Schätzungen aufgrund klinischer Symptomatiken sind allerdings wesentlich weniger genau. Dass die Ausmaße und Folgen der Epidemie dramatisch sind, kann aber nicht bestritten werden. Ob nun 15 oder 30 Prozent der Erwachsenen infiziert sind, spielt dabei letztlich keine Rolle.
Die Zahlen illustrieren auch, dass in den Hochprävalenzländern im südlichen Afrika schlichtweg kein Haushalt existiert, der nicht in irgendeiner Form von HIV und Aids betroffen ist. Überall, in jeder Familie sind Todesfälle zu beklagen, gibt es Kranke zu versorgen, fallen VerdienerInnen aus, sind Waisen zu versorgen, weil ihre Eltern an Aids gestorben sind.
BeraterInnen wie Ingrid Louis unterstützen und begleiten Infizierte und deren Familien und versuchen, die Folgen von physischem und emotionalem Leid, von Krankheit und Tod zu lindern. Ihre Mittel sind bescheiden. Neben Trost und Beistand gibt es medizinisch wenig, was die HelferInnen bieten können.
In Europa hat der Einsatz antiretroviraler Kombinationspräparate (ARVs) seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre dazu geführt, dass Aids zwar weiterhin nicht heilbar, aber therapierbar ist. Medizinisch gesehen kann sie in eine chronische Erkrankung überführt werden, die nicht mehr zwangsläufig zum Tod führt. In den meisten afrikanischen Ländern sind ARVs aus Kostengründen breitenwirksam nicht verfügbar. Auch Generika, günstigere Nachahmerpräparate, ändern daran nichts grundsätzlich, ist doch eine enorme Zahl von Menschen lebenslang zu versorgen und eine flächendeckende medizinische Infrastruktur zu schaffen. Dennoch haben einige afrikanische Regierungen wie in Botswana, Namibia und Uganda mit finanzieller Unterstützung multilateraler Geber, etwa des eigens dafür ins Leben gerufenen Global Fund to Fight HIV/AIDS, Tuberculosis and Malaria, begonnen, die lebensverlängernden Medikamente der betroffenen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. In Namibia etwa haben mittlerweile rund 17.000 Infizierte Zugang zur Aids-Therapie. Doch selbst wenn sie finanziert ist, wird die Behandlung wohl nie auf alle ausgeweitet werden können, die die Medikamente benötigen. Das liegt nicht nur an den Preisen der Medikamente und an Patentfragen.
Die Einnahme der antiretroviralen Medikamente muss je nach Behandlungslinie alle acht beziehungsweise zwölf Stunden erfolgen – punktgenau und lebenslang. Die zugrunde liegende Logistik erschöpft sich nicht im Einkaufen und Austeilen der Medikamente. Labors für komplizierte und regelmäßige Bluttests müssen aufgebaut, SozialarbeiterInnen und Krankenhauspersonal müssen geschult werden, der Nachschub gehört gesichert. Ein weiter Teil der Bevölkerung wird zudem allein deshalb vom Zugang zu den Medikamenten ausgeschlossen bleiben, weil er sich für die Therapie schlicht nicht qualifizieren kann: Wer die Medikamente erhalten will, muss zunächst um seine HIV-Infektion überhaupt wissen, also einen Test gemacht haben. Auch müssen Betroffene zumindest eine weitere Person einweihen, die sie bei der Behandlung unterstützt und sie in die Beratungssitzungen begleitet. Darüber hinaus muss zur erfolgreichen Anwendung der Medikamente ein gewisser Ernährungsstatus sicher gestellt sein: Wird nicht jeweils eine Stunde vor der Einnahme der ARVs eine komplette Mahlzeit eingenommen, behält der Körper die Medizin nicht bei sich.
Ganze Bevölkerungsschichten sind also zumindest mittelfristig vom Zugang zu Aids-Medikamenten ausgeschlossen, wie zum Beispiel die BewohnerInnen der städtischen Wellblechhüttensiedlungen, in denen Armut, Hunger und Unterernährung zum Alltag gehören. Die erfolgreiche Bekämpfung von Armut und Unterernährung kann nicht vom Kampf gegen Aids getrennt werden.
AutorenInfo: Matthias Rompel, Dr. rer. soc., ist Soziologe und Lehrbeauftragter an der Universität Giessen und der Fachhochschule Wiesbaden. Er hat von 2000 bis 2004 ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Forschungsprojekt zu den sozialen Folgen von Aids in Namibia durchgeführt.